Erfurt, Sonntag, der 26. Dezember 2010
Die Weihnachtstage vergingen wie die Wochen zuvor, unaufgeregt und in angeblich gesundheitsfördernder Monotonie. Die meiste Zeit hatte Jan mit Lesen oder, wie er es gern nannte, Heimarbeit verbracht. Dazu versorgte ihn Nele Kämpfer regelmäßig mit den notwendigen Unterlagen und natürlich mit brisanten Neuigkeiten aus dem hauseigenen Buschfunk, brandheiß und direkt aus der Quelle.
Alina hatte die Grundversorgung übernommen. Lücken in ihrem Kursplan nutzend, schleppte sie zweimal die Woche riesige Mengen Nahrungsmittel an, als könnte er nur so seine Rekonvaleszenzzeit unbeschadet überstehen. An zwei Wochenenden war sie sogar wieder in ihr altes Kinderzimmer gezogen, um ihn, wie sie sagte, besser umsorgen zu können.
Ohne den ziehenden Schmerz auf seinem Rücken wäre er rundum glücklich gewesen.
Als auch der immer weiter nachließ, stand für ihn fest, dass er mit Beginn des neuen Jahres wieder arbeiten würde. Der kurze Disput mit Alina über diesen Punkt war zu seinen Gunsten ausgegangen und so freute er sich auf den Wiedereintritt in seine gewohnte Welt, zumal ihn die wiederholten Beteuerungen seiner Sekretärin, dass es auch ohne ihn gut in der Firma laufe, eher nervös machten.
Alina hatte nicht nur bei seinem Wunsch auf Beschäftigung Einsicht gezeigt, sie überraschte ihn auch mit neuen sozialen Kontakten. Mit unübersehbarem Schalk im Nacken hatte sie ihm verkündet, dass sie Jakob Messerschmidt zum Abendessen erwarten würden. Sein Verdacht auf eine Liaison zwischen den beiden war sofort wieder aufgeflammt, was sie allerdings mit einem mitleidigen Blick rundweg abschmetterte.
»Ich sagte dir bereits, er ist ein Freund, nicht mehr. Aber da du ihn ja so gern einmal kennenlernen wolltest, sollst du deinen Willen haben. Schließlich bist du ihm noch ein Date schuldig.« Ihr Grinsen war entwaffnend.
Das Essen war für den heutigen Abend angesetzt und Jan warf unruhig einen Blick auf seine Uhr. Alina sollte längst da sein, schließlich würde der Bursche in knapp einer Stunde vor der Tür stehen.
Wenn er keinen Unfall baut, dachte Jan in einem Anflug von Ironie.
Seine Geduld wurde noch weiter auf die Probe gestellt. Als sie endlich kam, hatte sie ihren Kommilitonen Messerschmidt zusammen mit jeder Menge kleiner Kartons im Schlepptau.
»Es gibt Ente, süß-sauer und pikant. Du kannst es dir aussuchen!«
Alina lotste Jakob samt Mitbringsel in die Küche. So geht es natürlich auch, konstatierte Jan und musterte seinen Besucher. Er musste etwas älter als Alina sein, nicht viel, vielleicht siebenundzwanzig oder achtundzwanzig, und hatte eine schlanke, trotzdem kräftige Figur. Bestimmt machte er irgendeinen Sport.
Jan erinnerte sich an seine Rolle als Gastgeber.
»Was kann ich Ihnen anbieten? Bier, ein Glas Wein?« Alina übernahm das Antworten:
»Er trinkt Bier, aber nicht so kalt. Für mich wie immer Wein, am liebsten von deinem leckeren Rotwein aus dem hinteren Karton.«
Die Flasche für sechzehn Euro, schoss es ihm durch den Kopf. Es konnte teuer werden, wenn man seinem Kind einen guten Geschmack anerzog.
Alina verkündete ihren Beschluss, in der Küche zu essen. Es ist dort am gemütlichsten, behauptete sie, während ihr Freund, außer zu einer anerkennenden Bemerkung über das Bier, noch nicht zu Wort gekommen war.
Die Ente schmeckte, nur hätte man das Gemüse nicht unbedingt in der braunen Tunke ersäufen müssen.
Nach dem Essen dirigierte sie Jakob zum Rauchen auf den Balkon. Jan schlich den beiden nach und schaffte es, unbemerkt einen Blick nach draußen zu werfen. Alina hatte noch nie geraucht und soweit er erkennen konnte, war sie auch jetzt nur die gastfreundliche Begleitung.
Jan schlich zurück in die Küche, räumte das Geschirr zusammen und beorderte die beiden Rückkehrer unmissverständlich ins Wohnzimmer. Er wollte auf keinen Fall, dass dieser Mann überall erzählen konnte, er hätte bei den Dietrichs den ganzen Abend in der Küche verbracht.
Mit den üblichen Small-Talk-Taktiken entlockte er Jakob einen verkürzten Lebenslauf, was Alina mit einem gelangweilten Blick, aber schweigend tolerierte. Die Essenz daraus war, dass Jan einen Studenten der Sozialpädagogik im 3. Semester eines Masterstudienganges vor sich sitzen hatte, der aufgrund der gleichen Studienrichtung mehrere Kurse gemeinsam mit seiner Tochter belegen durfte.
Darüber hinaus war er unübersehbar in Alina verliebt. Armer Junge, dachte Jan mitleidig, gleichzeitig froh darüber, dass seine Tochter dessen Gefühle tatsächlich nicht zu erwidern schien. Da ist er wieder, dachte Jan, der Egoismus der Väter. Er ist und bleibt Naturgesetz.
»Und Sie haben also auch so ein Helfersyndrom?«
Wegen des uneigennützigen Tuns, das Jan jedem Sozialpädagogen schon aufgrund der Berufswahl automatisch unterstellte, waren ihm diese Leute, seine Tochter inklusive, immer etwas unheimlich. Jakob lächelte verlegen.
»Offen gesagt, Herr Dietrich, wollte ich ursprünglich einmal Jura studieren, das war mir aber zu komplex und zu trocken. Dann hatte ich die Sozialwissenschaften im Auge, das war aber auch nichts für mich und so bin ich letztlich bei der Sozialpädagogik gelandet.«
Na toll. Jan war diese Art der Suchpfade noch immer suspekt. Zu seiner Zeit als Student gab es keine Umleitungen oder Zwischeneinlagen. Trotzdem setzte er ein verständnisvolles Lächeln auf.
»Ich habe übrigens zusammen mit Alina auch Kurse in den Sozialwissenschaften belegt.«
Jan registrierte, wie sich seine Tochter plötzlich in ihrem Sessel streckte, so als würde jetzt ihr Einsatz verlangt.
»Sozialwissenschaft? Also Politik. Und womit beschäftigt ihr euch da?«
Auch Jakob richtete sich jetzt auf und kam Alina mit seiner Antwort zuvor.
»Das ist nicht in einem Satz zu beantworten. Im Moment behandeln wir zum Beispiel Staatsformen. Welche Gesellschaft ist die bessere, welche ist gerecht? Gibt es das überhaupt, Gerechtigkeit? Und natürlich die Frage nach der Freiheit. Was können wir darunter verstehen und wie können wir sie erreichen?«
»Du musst dir das als eine Mischung aus Klassikerstudium und Strategieentwicklung vorstellen. Für den Freiheitsbegriff zum Beispiel liest du ein Dutzend verschiedene Aufsätze von Vertretern der unterschiedlichsten Gruppierungen.« Alina hatte ihr Weinglas auf dem Tisch abgestellt, um ihre Hände zum Gestikulieren frei zu haben. »Zum Beispiel die der Republikaner, der Liberalen, der Linken und so weiter.«
Jakob übernahm wieder.
»Und dann diskutieren wir darüber, welche Konzeption der Freiheit unseren Vorstellungen am nächsten kommt, oder auch, welche es wert wäre, sie den gegenwärtigen Bedingungen anzupassen.«
»Richtig«, stimmte Alina bei. »Findest du nicht auch, dass wir dringend neue Ideen brauchen? Wo du auch hinschaust, Technik, Globalisierung, die Kommunikation oder auch die medialen Systeme, alles entwickelt sich in rasantem Tempo weiter, nur in der Gesellschaft bleibt alles beim Alten.«
Alinas Leidenschaft erinnerte Jan an alte Zeiten. Wie ähnlich sie ihm doch war. Er musste unwillkürlich lächeln.
Jakob schien das misszuverstehen.
»Wir nehmen das sehr ernst. Glauben Sie mir, Alina und ich, wir sind nicht die Einzigen, die nicht mehr nur reden wollen. Es gibt so viele Themen, zu denen vernünftige Antworten fehlen. Die letzten Jahrzehnte haben doch deutlich genug gezeigt, welche Gesellschaftsform nicht funktioniert, und trotzdem leben wir nach wie vor in den gleichen Mustern. Unser Gott ist das Wachstum, unser Altar der Profit. Na klasse! Wir wollen aber über Neues nachdenken und wir glauben, dass wir das in einer Gemeinschaft tun sollten. Die Zeit der stillen Genies in den Kellerräumen ist lange vorbei.«
»Leider interessiert das die Mehrzahl unserer Dozenten einen Scheiß.«
Alina ignorierte den missbilligenden Blick ihres Vaters und fuhr fort:
»Es gibt an der UNI so gut wie keine Unterstützung für solche Gedanken. Wahrscheinlich ist es den alten Professoren einfach zu anstrengend, sich mit uns zusammen auf Neuland zu bewegen. Im Gegenteil. Wenn uns endlich mal einer hilft, muss er sich zum Dank dafür mit den Lästereien der verknöcherten Kollegen herumärgern.«
»Und von diesen Revolutionären lernt ihr die korrekte Anrede eines Polizeibeamten?«
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[Auszug aus „Traumfahrer“ S.82-87]